Turmhaubenjubiläum - Predigt
Predigt zu Gen 11,1-9
anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Aufsetzung der Turmhaube, am 4. So. n. Trinitatis, am 24. Juni 2018 in der Oberkirche St. Nikolai zu Cottbus – von Pfr. Dr. Uwe Weise©
Sie schauten alle nach oben, liebe Schwestern und Brüder, sie schauten nach oben; die Köpfe weit in den Nacken gestellt; mancher biss sich auf die Zunge vor Anspannung; spontan zeigten Finger in die Höhe; andere kniffen die Augen zusammen --- sie alle schauten nach oben – plötzlich gab es leichte Komplikationen, der Wind, das Wetter war ungefähr so wie heute, regnerisch, ungemütlich, windig, der Wind also brachte sie kurz vor dem Aufsetzen auf dem Turmkranz ins pendeln. Das sah sehr gefährlich aus, von unten. Nochmal musste mit dem riesigen Kran aus Weimar neu angesetzt werden. Die Bauleute auf der obersten Rüstungsstufe haben aber die Nerven behalten. Aber alle anderen schauten angespannt oder erwartungsvoll nach oben. Und dann war es geschafft – am 19. Juni 1988 – hatte diese Stadt ihren historisch höchsten Punkt wieder: Die barocke Turmhaube der Oberkirche St. Nikolai, sie endet so ungefähr bei 57 Meter, darüber, über Cottbus, nichts als Himmel.
Alle, die damals vor dreißig Jahren dabei waren, werden dieses Ereignis ihren Lebtag nicht vergessen. Eine Wunde in dieser Stadt ist geschlossen worden. Eine Wunde, die aber immer noch und gerade heute, wenn wir an dieses Ereignis vor dreißig Jahren denken, auch eine wetterfühlige Narbe bleibt. Denn alles, was zu diesem Tag führte, hat ja viel viel eher angefangen. Mindestens da, als nur eine Sprache und nur ein Wesen in der Welt ausschlaggebend sein sollte. Diese Gemeinde und Kirche war in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhundert nicht nur ein deutsch-nationales Zentrum. Hier wurde eine Treue groß geschrieben, die nicht Gott galt. Wie ein Menetekel scheint es da, das in dieser Kirche Dr. Joachim Hossenfelder 1899 getauft und später auch konfirmiert wurde. Hossenfelder war einer der schlimmsten irrlichternden Theologen im sog. Dritten Reich; er war Cottbusser und der Gründungsvater der sog. Deutschen Christen und er hielt 1933 im Berliner Sportpalast eine programmatisch-diabolische Rede über den Unsinn des Alten Testamentes und den sog. Judengott.
Liebe Gemeinde, spätestens mit Menschen wie Hossenfelder begann die Zerstörung der Oberkirche. Es ist aber – Gott sei Dank! – nicht dabei geblieben. Und so sind wir heute in der Lage auf ein Wort Gottes zu hören, das Hossenfelder eigentlich aus der Bibel tilgen wollte. In der Wahrheit dieser Erzählung vom Turmbau zu Babel, wie wir sie gehört haben, verstehen wir leicht, warum solche Geschichten des Herren damals ein Dorn im Auge waren.
Liebe Schwestern und Brüder, ein Turm wird gebaut. Seine Spitze soll bis an den Himmel reichen. Vor allem aber ist er dazu da, dass sich seine Erbauer damit einen Namen machen wollen. Ein ehrgeiziges grenzenloses Projekt also – Narzissmus wäre eine zu freundliche Beschreibung. Eigentlich ist es Wahnsinn. Sich damit einen Namen machen und dabei gleichzeitig den Namen Gottes vergessen.
Und dann, liebe Schwestern und Brüder, kommt Gott; er will sehen, was seine gottvergesslichen Menschenkinder so treiben; was sie gottvergessen und selbstverliebt zustande bringen: „Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“ (Gen 11,6)
So hat sich Gott das nicht gedacht, liebe Gemeinde, als er die Welt schuf. Nicht, was er sieht, macht Gott stutzig. Auch kann ihn die werdende Stadt und ihr imposanter Turm nicht die Augen verwischen. Gott schaut durch dieses Projekt hindurch. Er sieht nicht nur, was vor Augen ist. Er erkennt das Wesen, den Kern. Und das heißt: „Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen ...“ Das, liebe Gemeinde, hatte Gott anders gewollt. Er wollte nicht, dass die Menschen nur in einem Volk existieren; und an diesem Wesen die Welt genese. Er wollte nicht, dass ihnen damit alles möglich werde – und sie alles machen, was sie können. Gott wollte die Vielfalt für seine Schöpfung, für seine Welt. Er wollte Völker und nicht nur ein Volk. Es brauchte Sprachen und nicht nur eine Sprache. Denn dass wusste Gott von Anfang an: Wo nur einem Volk alles möglich ist, da lauert der Terror. In nur einem Volk, in nur einer Sprache kommen die Kraft und der Segen der Schöpfung nicht zur vollen Entfaltung. Ein Volk darf niemals grenzenlos sein, denn dann bildet es sich ein, alles tun zu dürfen, was es kann und nicht, was es darf. Die gottvergessenen Menschen wollen das Mögliche und nicht das Erlaubte. Was sie können, wollen sie tun, nicht das, was sie dürfen. Gott aber weiß schon im Angesicht ihres Turmes – er weiß schon, was die Menschen immer wieder noch in ihrer Geschichte erst erfahren müssen – dass dem Menschen nicht alles zu tun erlaubt sein darf. Der Mensch ist ein Wesen der Grenze – und das muss er bleiben, wenn er Mensch und nicht Monster sein will. Dem selbstverliebten Menschen (und Volk) ist nichts unmöglich, weil er keine Grenzen seines Tuns anerkennt.
So, liebe Gemeinde, mit diesem Tun des monströsen Menschen ist der Turm auch der Oberkirche St. Nikolai zum Einsturz gekommen – viel eher noch, als im April 1945 als er ausbrannte. Wie aber ist er wieder aufgebaut worden?
Liebe Schwestern und Brüder, wir Menschen sind uns selbst schwer zu verstehen; wir sind in allem, was wir tun und lassen und warum wir es tun oder lassen kaum zu durchschauen. Und sicherlich ließe sich auf der obersten der moralisch-politischen Ebene aus heutiger Sicht leicht urteilen – je nach Grundverfassung. Etwa: Die Kirche hat sich vom Staat korrumpieren lassen, um so etwas und anderes zustande zu bringen – ist sich selber damit untreu und unglaubwürdig geworden. Oder, dem schon gichtschwachen DDR-Staat ging es um Projekte mit denen er sein marodes und zwielichtiges Ansehen aufpolieren konnte. Oder, man manövrierte sich in ein sich gegenseitig sedierendes Stillhalteabkommen. Oder, … oder … oder. Man kann dazu vieles denken – auf der obersten und mithin einfachsten Ebene.
Aber, liebe Schwestern und Brüder, wir merken schnell, das trifft es nicht, da ist viel mehr, da ist nicht falsch nicht richtig. Wir nähern uns der Wahrheit besser, wenn wir uns dafür öffnen, was die Menschen dieser Stadt damals mit dem Aufsetzen der Turmhaube erlebt haben. --- Seit einigen Woche kommen zu uns Menschen und berichten uns, wie sie das Aufsetzen der Turmhaube erlebten. Sie zeigen oder übergeben uns Photos, die damals gemacht wurden. Wir bekommen Geschichten zu hören, wie der Abschluss des Wiederaufbaus dieser Kirche die unterschiedlichsten Menschen dieser Stadt zusammengebracht hat. Das auf einmal Menschen miteinander zu tun bekommen haben, die sich vorher nur aus dem Weg gegangen waren. Die Stadt und die Menschen waren elektrisiert, von dem, was gerade passierte. Alle, alle haben das ungewöhnliche, das außerordentlich, das schlechthin kaum fassbare daran in ihren Herzen und Gedanken erfühlt und gespeichert. Neben aller technischen, baufachlichen und handwerklichen Faszination, war doch jedem bewusst, dass es sich hier um eine Kirche handelte, um ein geprägtes sehr altes Gebäude der Stadt, dass nicht für irgendetwas steht, sondern durch sein bloßes Dasein eine der wichtigsten Fragen des Lebens stellt: Was ist der Mensch?
Und die Antwort auf diese Frage gibt insbesondere der Turm dieser Kirche, indem er wie ein überübergroßer Zeigefinger gerade vom Menschen - von uns - weg zeigt in den Himmel – auf Gott. Ein Kirchturm ist ein Wegweiser für unser Selbstverständnis. Ein Kirchturm richtet unseren Blick von uns weg auf den aus, der der Schöpfer allen Lebens ist. So wie die Menschen damals gebannt nach oben schauten – voll Anspannung, voll Erwartung – so sagt uns jeder Kirchturm: „Mensch, dein Tun und Lassen, dein Dichten und Trachten, alles steht vor dem Angesicht Gottes. Du bist nur Mensch, wenn du nicht nur Mensch bist, sondern vor allem auch Gotteskind. ER, Gott, ist die Richtung und die Kraft deines Lebens – vergiss das nicht, Mensch! Und lebe danach, Mensch!“
Unausgesprochen aber höchst sichtbar ist dies mit jedem Kirchturm gesagt. Ob uns das passt oder nicht; ob wir es glauben oder nicht! Der Kirchturm weißt uns in den Himmel, auf Gott. Er zeigt an, worum es geht. Nämlich, dass es auf Erden nur gut werden kann, wenn wir nicht gottlos, nicht gottvergessen, nicht gotteslästerlich sind. Nur wenn unser Blick auch immer wieder nach oben geht, geht es gut – mit uns und unserem Leben, in dieser Stadt, mit diesem Turm. Amen.